Briefe aus der Zeit, als das Postwertzeichen noch Zukunft war

von Peter Platz

„Ein geheimnisvoller Zauber umgibt alte Briefe, der sich kein Mensch von Kultur entziehen kann. Lebt doch der Mensch in ihnen weiter oft durch Jahrhunderte. Mögen auch Bücher und Bilder von seinem Wirken Zeugnis geben, die Briefe sind es, die sein innerstes Menschtum enthüllen und ein anschauliches Bild seiner Persönlichkeit geben.“

Diese eindrucksvollen Worte stammen von keinem Geringerem als dem Grandseigneur der Altbriefkunde, Anton Baron Kumpf von Mikuli. Geboren 1879 in Kaplitz in Böhmen, wurde der Sprößling einer hoch angesehenen altfränkischen Patrizierfamilie als junger Freiherr Offizier, diente im ersten Weltkrieg, trat kurz danach in den Ruhestand und verwaltete seinen Gutsbesitz. Vor allem aber widmete er sich seiner großen Leidenschaft – der Philatelie. Kumpf-Mikuli gilt als der „Vater der Vorphilatelie“ und allein über ihn und sein beeindruckendes Werk könnte man ein hochspannendes Buch schreiben.

Aber zurück zu unserem Thema – der Vorphilatelie, auch Altbriefkunde genannt. Was das ist? Kurz gesagt geht es um Briefe und andere Poststücke aus der Zeit vor Einführung der Briefmarke. Diese Definition wird dem Thema aber nicht ansatzweise gerecht. Lassen wir daher nochmal den Baron zu Wort kommen: „Immer mehr zogen mich jene alten Briefe in den Bann, die unsere Großväter schrieben, als noch keine Briefmarken erfunden waren. Ich ging dazu über, den Inhalt dieser Briefe zu lesen, schöne Handschriften zu bewundern, die originellen Postwasserzeichen zu beachten, die oft eigenartigen Poststempel zu studieren, die Höhe der Portosätze zu studieren, begann die Postwege, die die Briefe durchwandert hatten sowie die Zeiten, die sie hierzu brauchten, zu verfolgen. Und vor meinen Augen stand plastisch eine mir ganz unbekannte, längst vergangene Welt wieder auf.“

Keine Frage: Briefe aus der Zeit, als das Postwertzeichen noch Zukunft war, ziehen in ihren Bann. Sie hegen Zweifel? Na dann machen wir doch mal eine Probe aufs Exempel.

Brief an Baron Münchhausen 1789
Sammlung Museumsstiftung Post und Telekommunikation

Was halten Sie von diesen guten Stück? Dieser Brief ging am 14. November 1789 an Baron Münchhausen. Haben Sie vielleicht gerade den fabelhaften Lügenbaron vor Augen bei seinem Ritt auf der Kanonenkugel? Möglicherweise sogar mit dem Gesicht des großen Hans Albers? Okay, das war nicht ganz fair. Der Adressat dieses wunderschönen Briefes war natürlich ein anderer, namensgleicher Adliger und seines Zeichens zum damaligen Zeitpunkt Postmeister in Braunschweig.

Hans Albers verkörperte den unsterblichen Lügenbaron der Weltliteratur 1943 im Film. Bemerkenswerterweise ist er dabei unterwegs in delikater Mission für den Prinzen von Braunschweig. Apropos „Adel“: Manche der vorphilatelistischen Poststempel sind sogar „adlig“. Allerdings hat das nichts mit blaublütiger Herkunft zu tun. Doch dazu später mehr.

Wie nähert man sich nun dem Thema „Vorphilatelie“? Ein Weg wäre beispielsweise über heimatgeschichtliches Interesse. Angenommen Sie wohnen im Emsland. Schauen Sie sich dazu mal den Brief aus dem Jahr 1811 an, der von Haselünne über Lingen nach Münster lief.

Briefe aus LINGEN und Osnabrück DE OSNABRÜCK

Das gute Stück zeigt gleich zwei Ortszeilenstempel. Aufgegeben wurde er in Haselünne, wie der Langstempel links oben zeigt. Beim Eintritt in ein neues Postgebiet erhielt er dann den Transitstempel „LINGEN“. Denn Sie müssen wissen, 1811 gehörten die emsländischen Städte Haselünne und Lingen durch eine Annexion nordwestdeutscher Gebiete in Folge der Napoleonischen Kriege noch zum Kaiserreich Frankreich, während Münster Teil des Königreichs Preußen war. Und schon sind wir mittendrin in der Vormarkenzeit und gleichzeitig in einer der spannendsten Phasen der deutschen Geschichte. Und stellen Sie sich vor, Sie halten diesen Brief in der Hand, der damals als „Zeitzeuge“ dabei war. Was mag dieser Brief „erlebt“ haben? Durch wessen Hände ging er? Wie sahen diese Menschen aus? Wie mögen Sie gedacht und gefühlt haben?

Ein weiteres, zur Zeitreise inspirierendes Stück ist der ebenfalls in der Abbildung gezeigte Brief, der im Jahr 1784 in Osnabrück abgeschickt wurde. Zu erkennen ist dies am Langstempel „DE OSNABRÜCK“. Die Herkunftsstempel mit „DE“ zählen zu den ersten Poststempeln mit Ortsbezeichnung. In Österreich prägte man für diese „VON“-Stempel den Begriff „adlige Stempel“. Nebenbei bemerkt: Vor ihrer Einführung schrieben die Postbeamten das „DE“ und den Herkunftsort von Hand auf den Brief.

Wenn Sie sich nun der Altbriefkunde eines bestimmten Landes oder einer Region widmen möchten, sollten Sie eines zuvor für sich klären: Wann erschien die erste, für dieses Gebiet frankaturgültige Briefmarke? Denn zu diesem Zeitpunkt endet die entsprechende vorphilatelistische Phase. Die Frage ist aber einfach zu klären. Ein Blick in den Briefmarkenkatalog genügt. Und auch, wenn manche Länder noch einige Zeit Briefe ohne Briefmarken zuließen – natürlich nur, wenn die Transportleistung vorausbezahlt wurde –, diese Briefe gehören, zumindest nach herkömmlicher Definition, nicht mehr zur Vorphilatelie. Die möglichst genaue Datierung des Briefes ist also eine spannende Aufgabe.

Hilfreich dabei ist, dass es sich bei Briefen der Vormarkenzeit in der Regel um so genannte Faltbriefe handelt – Briefe, die aus einem beschriebenen Bogen Papier gefaltet und ohne gesonderten Umschlag versandt wurden. Also schauen Sie sich den Inhalt Ihres Schmuckstückes ruhig an und lesen Sie die Geschichte, die der Absender vor vermutlich mindestens mehr als 170 Jahren zu erzählen hatte. Und keine Sorge – das Briefgeheimnis ist garantiert verjährt!

Postwagen nach Gotha, Lithografie von Georg Emanuel Opitz, um 1825