Der amerikanische Traum, eine höchst seltsame Familie und der reichste Hund der Welt
von Michael Maaßen
Neben den in erster Linie postgeschichtlich interessanten Aspekten der Transatlantik-Post des 19. Jahrhunderts von Deutschland in die USA und vice versa sind es häufig auch die sozialhistorischen Aspekte, die bei genauerer Betrachtung ebenso spannende wie faszinierende Hintergründe offenbaren. Mit Fokus auf die Geschichte deutscher Auswanderer und deutscher Kultur in den USA lassen sich im Bereich der Social Philately vielfältigste Spuren finden und außergewöhnliche Geschichten erzählen.
Zwei eher unauffällige Transit-Briefe aus dem Jahr 1854 bzw. 1855 an einen Empfänger mit dem Namen „John D. Wendel (Esq.)“ brachten den Autor auf die Spur einer Familie, die in verschiedenster Hinsicht bemerkenswert war. Deren Geschichte erzählt vom gelebten amerikanischen Traum, von Geld und Wohlstand, aber auch von den Schattenseiten des Erfolgs. Denn das vermeintliche Glück in der neuen Heimat erwies sich letztlich als tragisches Schicksal.
„The Wendels“: Die Erfolgsgeschichte einer Auswandererfamilie
Ihren Anfang nimmt die Geschichte im Jahr 1798 mit der Auswanderung des Pelzhändlers Johann Gottlieb Wendel in die USA. Wie viele seiner Landsleute war seine erste Station die Stadt New York und das Schicksal verband ihn mit einem anderen deutschen Emigranten, der ebenfalls im Pelzhandel tätig war: Johann Jakob Astor. Die beiden wurden Freunde und Geschäftspartner. Nur ein Jahr später heiratete John G. Wendel, wie er sich nun nannte, Astors Halbschwester Elisabeth (Elizabeth) Astor. Aus der Ehe ging ein Sohn mit dem Namen John (Johann) Daniel Wendel hervor. Neben dem gemeinsamen Pelzhandel verlegte John G. Wendel – wie auch der in der Kurpfalz geborene Astor – seine Geschäftstätigkeit in den Bereich der Immobilieninvestitionen. Wendel und Astor kauften ab Anfang des 19. Jahrhunderts in großem Stil Ländereien und Häuser, größtenteils im Stadtteil Manhattan. Die Investitionen zahlten sich aus. Mit dem Wachstum der Stadt sowie einem regelrechten Bevölkerungsboom vervielfachte sich der Wert der Grundstücke und Häuser innerhalb kurzer Zeit erheblich und die Geschäftsleute Wendel und Astor konzentrierten sich zunehmend mehr auf das Immobiliengeschäft. Astor galt als der reichste Mann seiner Zeit und der erste Multimillionär Amerikas. Er hinterließ ein Vermögen von 20 Millionen Dollar, zwei Hotels, ein Theater, zahlreiche Immobilien und eine Vielzahl von Aktien.
Seiner Heimat blieb Astor zeitlebens auf verschiedene Weise verbunden, u.a. als langjähriges Mitglied der „Deutschen Gesellschaft der Stadt New York“ (German Society of New York), deren Vorsitz Astor in den Jahren 1837–1841 innehatte. Die Gesellschaft diente als Dachorganisation der Deutsch-Amerikaner in New York. Als solche half sie insbesondere ab den 1830er-Jahren bei der Einwanderung aus Deutschland und anderen Belangen deutscher Emigranten. Astor engagierte sich auch für andere wohltätige Organisationen, denen er teils hohe Spenden zukommen ließ. Die German Society of New York erhielt bereits zu Lebzeiten Astors großzügige Spendenbeträge. Nach seinem Tod gingen weitere 20.000 Dollar aus dem Nachlass Astors an die Gesellschaft. Im Gegensatz zu seinem Schwager und Geschäftspartner John G. Wendel suchte Astor die Öffentlichkeit, auch um Gutes zu tun und wohltätige Zwecke in das Blickfeld zu rücken.
John D. Wendels New Yorker Immobilienimperium
John Daniel Wendel übernahm nach dem Tod seines Vaters die Geschäfte und setzte den Weg kontinuierlich und mit großem Erfolg fort. Er kaufte und verpachtete Grundstücke und Immobilien in großem Stil. Als Alleinerbe wurde er nach dem Tod seiner Mutter im Jahr 1846 zu einem der größten Immobilienunternehmer der Stadt New York. Sein enormer Reichtum wurde auf der Grundlage von vier Prinzipien aufgebaut: Niemals eine Hypothek aufnehmen, niemals verkaufen, niemals reparieren und immer daran denken, dass die Preise für Premium-Immobilien am Broadway alle zehn Jahre um zehn Blocks Richtung „Uptown“ ziehen. Im Geschäftsleben war John D. Wendel für seine Sparsamkeit wie auch für seine Disziplin bekannt. Seine Prinzipientreue wurde ihm aber in Teilen als Sturheit ausgelegt und geriet ihm in einigen Fällen – zumindest wirtschaftlich betrachtet – zum Nachteil. Trotz oder gerade wegen ihrer Geschäftsprinzipien, genossen die Wendels aber auch den Ruf eines gütigen, großherzigen Vermieters. So hielten sie ein wertvolles Grundstück in SoHo frei, damit Kinder aus den benachbarten Mietskasernen darauf spielen konnten. Sie gewährten Mietern, die sie mochten, große Rabatte und ließen Immobilien oftmals lange Zeit leer stehen, bis sie einen passenden Pächter gefunden hatten.
Die Familie genoss bis zum Tod des Familienoberhauptes ein großes Ansehen in New York. Der „New Yorker Herald“ schrieb anlässlich des Todes von John D. Wendel: „Mr. Wendel war einer der wenigen Überlebenden der Klasse von Kaufleuten in den Vereinigten Staaten, deren sparsamer Fleiß, exakte Geschäftsgewohnheiten und unerschütterliche Integrität bald ohne einen lebenden Vertreter sein werden.“ Er hinterließ seiner Familie neben dem Immobilienbesitz ein Vermögen von mehr als 3.000.000 Dollar, welches unter seinen Kindern aufgeteilt wurde.
Das Wendel Anwesen – eine sagenumwobene Adresse in New York
John D. Wendel und seine Frau Mary Ann hatten sieben Kinder – sechs Töchter (Rebecca, Augusta, Josephine, Henrietta, Georgiana, Mary und Ella) und einen Sohn, John Gottlieb Wendell II. Im Jahr 1856 baute John D. Wendel für seine Familie eine Villa aus rotem Backstein an der nordwestlichen Ecke von Fifth Avenue und 39th Street. Das 20-Zimmer-Anwesen war mit allem Luxus der damaligen Zeit ausgestattet. Die Familie wurde von sieben Bediensteten versorgt, die sich um alle Belange des Lebens kümmerten. Neben einem Sommeranwesen in Irvington berichtete die Presse auch von Familienreisen nach Europa. Doch der Ruf der extremen Sparsamkeit der Wendels schien nicht unberechtigt, wie sich nach dem Tod des Familienoberhauptes noch deutlich zeigen sollte.
Die vorliegenden Briefe belegen Geschäftsverbindungen von John D. Wendel nach Deutschland, wie aus den Absendervermerken, beides Firmennamen, ersichtlich ist. Man kann nur mutmaßen, worum es in den Korrespondenzen ging, da die Inhalte leider nicht erhalten geblieben sind.
John D. Wendel starb im Oktober 1876, nur einen Monat nachdem seine älteste Tochter Henrietta verstorben war. Mary Ann Wendel und ihre sechs verbliebenen Kinder – alle unverheiratet – lebten weiterhin in der Villa in der Fifth Avenue. Bereits zu dieser Zeit war auffällig, dass seit der Fertigstellung des Hauses im Jahr 1856 kaum etwas am Erscheinungsbild des Hauses verändert worden war. Auch im Inneren des Hauses waren in all den Jahren kaum Veränderungen oder Reparaturen vorgenommen worden, wie sich später herausstellen sollte.
Die Wendels waren ein gefundenes Fressen für die Lokalpresse. Aufgrund ihres immensen Reichtums, aber auch der bekannten Eigenheiten war das öffentliche Interesse groß. Die exzentrische Familie war später als „The weird Wendels“ („Die seltsamen Wendels“) bekannt und das Anwesen, bezeichnet als „House of Mistery“, fast schon eine Touristenattraktion, die mehr und mehr Schaulustige anzog.
Nach dem Tod von John D. Wendel führte sein einziger Sohn, John Gottlieb Wendel II., die Geschäfte weiter und herrschte mit absoluter Bestimmtheit über die Familie. John G. Wendel regierte sowohl seine Schwestern als auch seine geschäftlichen Angelegenheiten mit einem dogmatischen, unbeirrbaren eisernen Griff. Ohne größere soziale Kontakte schottete er seine Familie nahezu komplett ab. Seinen Schwestern verbot er nicht nur den Umgang mit außenstehenden Personen, sondern lehnte alle ehelichen Verbindungen ab, weil sie „das angesammelte Vermögen zerstreuen und unter andere Namen als Wendel stellen würden“, so die New York Times vom 24. Juli 1930.
Stattdessen blieb die Familie unter sich. Die Times berichtete, dass die Geschwister nur gelegentlich außerhalb des Hauses gesehen wurden, stets in prächtige viktorianische Gewänder gekleidet, die ein halbes Jahrhundert zuvor aus der Mode gekommen waren. Das Haus selbst wurde nie an moderne Standards angepasst. John G. Wendel II. ignorierte Elektrizität und Telefone und beleuchtete das Haus stattdessen mit Gaslampen. Es gab keinen Zaun um das Haus, und alte Zeitungsberichte berichten von Passanten, die sich an die Fenster drängten, um einen Blick auf die Schwestern zu erhaschen. Die Familie besaß keine Automobile. Die Fahrten in die Sommerresidenz wurden bis zuletzt in Kutschen zurückgelegt. Umgeben von Hotels und Geschäften war das Wendel-Haus in den 1910er-Jahren die einzige Wohnimmobilie in der Innenstadt. Außenstehende waren verblüfft von der Tatsache, dass Wendel sich nicht für einen einfachen Verkauf entschied, der Millionen eingebracht hätte.
Die Weigerung jedwedem Fortschritt gegenüber erklärte man sich durch eine fortschreitende Paranoia. John war mit allen Mitteln darauf bedacht, keine unnötigen Ausgaben zu tätigen, aber vor allem das – unter seinen Geschwistern aufgeteilte – Familienvermögen zusammen zu halten. Es wurde vermutet, dass diese Besessenheit nach dem Tod seiner Mutter im Jahr 1894 nicht nur ihn, sondern auch seine Schwestern buchstäblich in den Wahnsinn trieben.
Nach einem Fluchtversuch seiner Schwester Georgiana, ließ er diese für unzurechnungsfähig erklären und in eine Anstalt einweisen. Sie lebte dort bis zu ihrem Tod. Nur Rebecca konnte erfolgreich entkommen, aber das geschah erst 1903, als sie 61 Jahre alt war. Sie heiratete Professor Luther A. Swope und nahm, genau wie John es befürchtet hatte, ihren Anteil am Vermögen mit.
Das Ende einer verrückten Familiengeschichte
Anfang des 20. Jahrhunderts waren die Wendels vermutlich die größten Grundbesitzer in New York City, mit einem Besitz von mehr als 150 Immobilien in Manhattan im Wert von über 1 Milliarde Dollar nach heutigem Maßstab. Die „exzentrische“ Familie mit der ausgeprägten Aversion gegen die Öffentlichkeit ließ dennoch keinen Zweifel daran, dass ihr Reichtum keineswegs mit Glück gleichzusetzen war. John G. Wendel II. blieb zumindest insofern erfolgreich, als all seine Schwestern – ausgenommen Rebecca – unverheiratet blieben und das Familienerbe dort, wo es seiner Meinung nach hingehörte. Nach und nach verstarben die Geschwister. Zuerst Augusta und Henrietta, gefolgt von John, der 1914 an einem Schlaganfall starb, und dann Josephine vier Monate später. Da Georgiana immer noch in der Anstalt war (wo sie 1924 starb) und Rebecca bei ihrem Mann, waren nur noch Mary und Ella in dem alten Haus. Doch auch sie nutzten die neu gewonnene Freiheit nicht und lebten in den folgenden zehn Jahren mit einem kleinen Hund in drei Zimmern des Hauses. Nach Marys Tod im Jahr 1925 lebte Ella Wendel allein in dem riesigen Haus, ihre einzigen Gefährten waren eine Handvoll älterer Bediensteter und ihr Pudel Tobey. Dieser erlangte unfreiwillig Berühmtheit als Ella 1931 im Alter von 78 Jahren starb und das Familienvermögen angeblich ihrem Hund vermachte, wie einige Zeitungen schrieben. Dies hätte ihn zum reichsten Hund der Welt gemacht dank eines geschätzten Vermögens von 30 Mio. Dollar.
Fakt war jedoch, dass der Wendel-Nachlass unter mehreren Wohltätigkeitsorganisationen aufgeteilt werden sollte. Doch bevor das Geld und der Besitz zu diesem Zweck freigegeben werden konnten, galt es die Frage des Erbes aus juristischer Sicht eindeutig zu beantworten. Denn es meldeten sich mehr als 2.300 (!) Personen, die behaupteten, Verwandte zu sein, darunter angebliche Cousins und Cousinen aus der Tschechoslowakei, uneheliche Kinder und sogar ganze Dörfer in Deutschland, „deren Bewohner zumeist den Namen Wendel tragen“, wie der New York Herald Tribune vom 23. März 1932 schrieb. Am Ende ging der größte Teil des 30-Millionen-Dollar-Vermögens wie geplant an verschiedene Wohltätigkeitsorganisationen, darunter die Drew University, der Ella Wendel auch das Haus vermachte. Heute hätten Haus und Grundstück allein einen Wert von rund 4,5 Millionen Dollar. Obwohl Ellas Wunsch war, das Haus als eine Art Museum zu erhalten, wurde das Grundstück verpachtet und das Gebäude 1935 abgerissen. Heute steht dort das 27-stöckige Gebäude der Republic National Bank. Eine Gedenktafel erinnert an die bizarre Familiengeschichte der „seltsamen Wendels“.
Quellen
Tom Miller, The Lost John D. Wendel Mansion – 442-444 Fifth Avenue –daytoninmanhattan.blogspot.com/2019/02/the-lost-john-d-wendel-mansion-442-444.html
Mark Saunokonoko, Fabulously wealthy Wendel family one of New York’s strangest stories – https://www.9news.com.au/9stories/fabulously-wealthy-wendel-family-one-of-new-yorks-strangest-stories/d449046b-30aa-4fbb-95bf-e9d1a3144a0c
Julie Satow, Before the Trumps, There Were the Wendels, New York Times vom 8. April 2016 – https://www.nytimes.com/2016/04/10/realestate/before-the-trumps-there-were-the-wendels.html
https://www.atlasobscura.com/places/the-wendel-house-new-york-new-york